Die Zeichen stehen schon deutlich auf Sommerpause am Gendarmenmarkt: Weiträumige Open-Air-Baustellen belagern das
Konzerthaus, gespenstische Leere herrscht im Gebäude-Inneren. Nur im dritten Stock regt sich noch eine kleine Publikumsschar. Erwartungsvoll drückt sie sich in den Werner-Otto-Saal. Der Grund:
Iván Fischers Kurzoper "Die Rote Färse" (das bezeichnet eine junge Kuh), ein 50-minütiges Bekenntniswerk des meistenteils dirigierenden
Konzerthausorchester-Chefs.
Fischer setzt es vier Mal innerhalb von zwei Tagen auf den Plan. Ein ungarisches Projekt mit ungarischen Musikern, ungarischen Schauspielern, ungarischen Sängern. Fischer vereint Mitglieder seines
Budapester Festival-Orchesters mit jungen Schauspielstudenten, erfahrene Sänger mit Unterhaltungsmusikern. Doch zunächst gibt der Komponist und Dirigent eine viertelstündige persönliche Einführung. Er spricht über seine Beweggründe, über Inhalt und intendierte Wirkung. Fischer möchte, dass jeder im Publikum weiß, worum es ihm geht.
Der Dirigent hat nämlich ein leidenschaftliches Plädoyer gegen den wachsenden ungarischen Antisemitismus der Jetztzeit in Musik ausgeformt. Er tat es, indem er einen historischen Vorfall von 1883 mit musikalischen Mitteln ins Gedächtnis zurückruft – die sogenannte
Ritualmordlegende von Tiszaeszlár. Ein 14-jähriges christliches Mädchen war dort verschwunden, und die Dorfbewohner waren sich schnell einig darüber, dass die Juden das Mädchen zum Passahfest geopfert haben.
Rechtsradikale missbrauchen eine antijüdische Legende
Es kam zu einem landesweit verfolgten Prozess. Über die Geschichte wird in Ungarn seither immer wieder geredet. "Sie ist auch deshalb bekannt", sagt Fischer, "weil sie von Rechtsradikalen immer noch aufgegriffen wird. Die glauben immer noch, dass das arme Mädchen für Ritualzwecke von den Juden ermordet wurde. Sie haben ein Mahnmal in dem Dorf errichtet, das zum Pilgerort für Neonazis geworden ist."
Aber jenseits aller aktuellen politischen Brisanz liefert der historische Prozess nur den Rahmen, denn eigentlich interessiert den Künstler, der selbst aus einer jüdischen Musikerfamilie stammt, etwas anderes daran, etwas Psychologisches. Der Prozess konnte seinerzeit nur stattfinden, weil der 13-jährige Móric Scharf als Hauptzeuge gegen seinen Vater und dessen Kameraden auftrat, anschließend mit kaum erträglicher Schuld weiterleben musste. "Ich finde diese Geschichte faszinierend", sagt Fischer: "Es geht um den Fall einer falschen Aussage. Aber wie kann man jemanden dazu bringen, den eigenen Vater zu beschuldigen, der möglicherweise deshalb aufgehängt wird? Der Sohn wurde entweder manipuliert oder gefoltert. Man weiß es nicht genau."
Eine "grotesk-lyrische Oper" nennt Fischer dieses Werk nach Originaltexten des Dichters Gyula Krúdy. Es ist eine Collage, die von Stilkopien wimmelt. Jiddische Folklore, Csárdás-Lieder, Synagogen-Gesang und expressionistische Bartók-Klänge werden gegeneinander geschnitten, gehen ineinander über, überlagern sich zuweilen.
Ein namenloser Erzähler führt wie ein rezitierender Barock-Evangelist durch die Szenen. Ein üppiges Weib mit wild wuchernden roten Locken schleudert ebenso wild wuchernde Koloraturen aus ihrer Kehle. Sie ist die Chefin des titelgebenden Wirtshauses "Zur Roten Kuh". In ihrer Gegenwart, in einer Atmosphäre ausgelassenen Tanzes und erotischer Spannungen gelingt schließlich die Verführung des jungen Móric Scharf.
Fußball-Fan-Meute in Ungarn-Trikots
Recht auffällig die wechselhafte Darstellung der antisemitischen Verleumder. Im geselligen Tanzwirbeln wirkt die Gruppe noch reizvoll, strotzt geradezu vor attraktiver Lebenslust. In der spektakulären Gerichtsszene dagegen rottet sie sich zur tumben Fußball-Fan-Meute in Ungarn-Trikots zusammen. Sie reckt ihre dämonisch dröhnenden Vuvuzelas in die Luft, grölt dem 13-jährigen Jungen pushende Durchhalteparolen ins Ohr.
Schließlich beamt Fischer den ungarischen Nationalhelden Lajos Kossuth als Überraschungsgast in den Gerichtssaal. Er nähert sich mit zerfurchter Stirn, humpelndem Gang, aber tadellos rabenschwarzem Bass. Er mahnt zur Vernunft, sorgt kurzfristig für betretenes Schweigen.
Iván Fischer, der komponierende Dirigent, wagt mit seiner "Roten Färse" viel. Eigentlich ist es gar keine Oper, es ist politisch gefärbtes Schauspiel mit durchgängiger Musik. Um das Groteske, Ohnmächtige, Irrsinnige, aber immer auch Menschliche darzustellen, greift er größtenteils auf musikalische Strömungen der 1920er-Jahre zurück. Und muss sich den Vorwurf gefallen lassen, dass seine durchaus auftrumpfende Collage etwas zu kurzweilig geraten ist.
Laut eigenen Aussagen schwebt Fischer eine Art Reflexionstheater vor, das dem Publikum während der Aufführung genug Raum und Zeit zum Nachdenken geben soll. 50 durch und durch spannungsgeladene Minuten reichen dafür allerdings nicht aus.