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Vom Ende eines Vorurteils

Kissinger Sommer. Im August tritt Iván Fischer auch offiziell sein Amt als Chefdirigent des Berliner Konzerthausorchesters an, das seinen Sitz am Gendarmenmarkt hat. Seinen Einstand hat er bereits im vergangenen Oktober gegeben.
Für ihn ist dieses Engagement in der Nachfolge von Lothar Zagrosek im Moment noch ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang, weil er sich auf etwas vollkommen Neues einstellen muss - und das Orchester natürlich auch. Das ist bei seinem jetzigen Orchester vollkommen anders: "Das Budapest Festival Orchestra ist und bleibt eine Familie", sagt er. Und das kann er schon deshalb, weil er es 1983 mit dem Pianisten Zoltán Kocsis gegründet und seitdem geleitet hat. Diese enge Verbundenheit zeigt sich auch im Musikalischen: Iván Fischer ist ein sehr genauer, aber auch sehr ökonomischer Dirigent. Er kann sich das leisten, weil seine Musiker genau wissen, was er von ihnen will, und das auch verlustfrei umsetzen. Das Ergebnis ist ein animierter, plastischer Orchesterklang, der Homogenität mit Durchhörbarkeit der Einzelstimmen verbindet. So gesehen, konnte man sich schon auf Franz Liszts Mephisto-Walzer Nr. 1, "Der Tanz in der Dorfschenke", freuen, der allgemein gerne etwas mulmig musiziert wird, damit man nicht so schnell merkt, wie schwierig dieses Werk für Orchester ist. Bei den Budapestern klang das schon anders. Da wurde plötzlich deutlich, was Liszt gemeint hat, als er die Klangberge mit einem Schuss Walpurgisnacht aufeinander türmte: eine Steigerung ins - musikalisch kontrollierte - Delirium und den Absturz. Aber das Orchester wurde nicht einfach nur leiser, sondern Fischer gestaltete den etwas taumeligen Schwindel, den es nach einem derartigen Tanz zu überwinden gilt, und die Ermattung. Igor Levit war der Solist in Béla Bartóks Klavierkonzert Nr. 3. Er konnte sich in Fischers "Familie" bestens aufgenommen fühlen. Selten wurde mit einem derartigen Einverständnis zwischen Solist und Orchester, derart auf Augenhöhe musiziert wie bei diesem Bartók-Konzert. Selbst im Konfrontativen sahen sich beide Seiten als Einheit. Und sie stellten sich in nahtloser konzeptioneller Übereinstimmung dem Untypischen der Bartókschen Ästhetik: der Hintanstellung des Rhythmischen zugunsten des erstaunlich reichen Melodischen. Das gab beiden die Gelegenheit, die Expressivität im Leisen, Kammermusikalischen zu suchen, nie im plakativ Lauten, und mit Klangfarben zu spielen, die wirklich überraschten. So bekam auch Igor Levit Gelegenheit, seine Position gegenüber dem Orchester ständig neu zu definieren: als Außenstehender, als Gegner, als integraler Bestandteil, der mal mit dem Orchester (in seltener Eintracht), mal gegen es spielte. Herausragend war dieses kalkulierte Miteinander in dem mutig langsamen Adagio religioso, in dem Solist und Orchester in einen ruhigen Dialog treten und sich dabei ausreden lassen und das seine Spannung aus ständig wechselnden emotionalen Facetten bezog. So etwas kann natürlich nur gelingen, wenn sich das Orchester auf einen Solisten einlässt, der sich in seinen Absichten klar artikulieren kann. Hier hat das wunderbar funktioniert. Man hatte keine Not damit, diese Musik, sogar in dem spröden Fugato des Schlussatzes, mit der Bezeichnung "schön" in Verbindung zu bringen.Für manchen war dieses Konzert die Versöhnung mit Bartók. Als Zugabe spielte Igor Levit das schwerelose, reflexive Prélude "Des pas sur la neige" von Debussy Dass die Budapester eine fabelhafte Brahms Zwo spielen können, hatte man vorher schon gewusst, denn sie haben die Sinfonie vor einigen Jahren schon einmal aufgeführt. Und doch war es wieder überraschend, mit welchem Zugriff und Engagement musiziert wurde, wie plastisch die Architektur dieses Werkes wurde, wie viele Melodien in diesem Werk stecken, wenn man sie hörbar macht, welche Beziehungen Brahms zwischen den Stimmen geknüpft hat. So gab es bei aller Begeisterung auch wieder und immer noch viel zu entdecken. Ein großartiger Abschlus www.infranken.de
Igor Levit war der Solist bei Béla Bartóks 3. Klavierkonzert. Iván Fischer stand am Pult seines Budapest Festival Orchestra. Foto: Thomas Ahnert